Wurzeln und Flügel

Gestern waren wir als Familie im Kino. Das kommt nur noch selten vor. T. ist im Alltag völlig zugeplant mit Schule und außerschulischen Aktivitäten. In der spärlichen freien Zeit, die ihr bleibt, will sie sich natürlich mit ihren Freund_innen treffen. Bleiben noch die Ferien – sofern wir miteinander zu dritt wegfahren. Auch das ist sehr selten geworden. Meistens nehmen wir eine Freundin von T. mit, denn mit seinen Eltern ist es einem Teenager schnell langweilig. Das ist so, das gehört so, und doch macht es mich wehmütig – wie lange haben wir noch diesen innerfamiliären Kontakt – die speziellen Witze, die nur wir drei verstehen, die Familiengeheimsprache, die wir nur sprechen, wenn wir zu dritt zusammen sind … ist das der Preis, wenn man ein Einzelkind hat?

Im Kino lief „Jahrhundertfrauen“ mit einer großartigen Annette Bening. Die Story ist schnell erzählt: Die alleinerziehende Mutter Dorothea lebt mit ihrem 15-jährigen Sohn Jamie in einer WG in Santa Barbara. Wir schreiben das Jahr 1979. Dorothea und Jamie haben eine enge Beziehung. Und doch fragt sie sich, ob sie ihrem Sohn all das mitgeben kann, was er als Mann so braucht – und überhaupt, wie soll ein richtiger Mann denn sein? Sie beauftragt ihre WG-Genossin Abby, eine Fotografin in ihren Zwanzigern, Jamie unter ihre Fittiche zu nehmen. Und da ist dann noch Jamies Freundin aus Kindertagen ….
Dieser zarte Film, der im Laufe eines Sommers die Entwicklung eines ganz normalen Jungen zeigt, der eigentlich alles ganz schön gut hinkriegt, passt gut zu der Wehmut, die wahrscheinlich alle Eltern von Heranwachsenden kennen. Wir haben ihnen Wurzeln gegeben und jetzt brauchen sie Flügel. Sie wollen uns als wahrhaftige, authentische Mütter bzw. Väter erleben, zumindest ein bisschen in unsere Abgründe blicken dürfen, und sie wollen auch ganz weit weg fliegen – um doch hoffentlich immer wieder zurückzukehren, bis sie wirklich so weit sind, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Als ich Dorothea beobachtete, wie sie sich um einen emotionalen Kontakt zu ihrem Sohn bemüht, und wie sie, als Jamie andockt, ihn dann doch nicht in ihr Inneres hineinschauen lässt, um ihn nicht mit ihrer Einsamkeit zu belasten – das war wunderbares Kino und ein Spiegel für Eltern von Teenagern.
T.s Flügel werden auch immer größer. Doch nach dem Kino liefen wir drei untergehakt nach Hause, ganz verbunden.

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